Oma Lisas Keksdose: Eine Geschichte von Glücksspiel und Emotionen

Warnhinweis: Dieser Beitrag kann auf empfindliche Personen belastend wirken!

Weitere Hinweise über diese Reihe finden Sie in unserem Blogbeitrag Vorwort Spielerreportagen.

Jeden Freitag brachte Oma Lisa hoffnungsfroh ihren Lottoschein zur Annahmestelle, spuckte dreimal kurz drauf, bevor sie ihn aus der Hand gab. Oma Lisas Geschichte, geprägt von Hoffnung und Enttäuschung, weckt starke Emotionen.

„Jo, heut‘ hob‘ ich Glick. Du wirscht schon sehn’“, zum Enkel. „Dann tu‘ ich dir Gutesch. Du kriescht wos ob. Don telen wer. Wilscht och noch mo draufspucken?“ Und artig spuckte ich auf den Schein und rechnete im Stillen meinen Anteil in Berge von Comic-Heften um.

Am Sonntagmorgen stellte sie dieses gewaltige Radio an, dessen Röhren erst warm werden mussten, hörte Nachrichten und die Lottozahlen. Oma Lisa besaß keinen Fernseher. „Ich würd ja eenen anschoffen. Alene wegen de Zohlen. Abo der Opa is dogegen.“ Wenn der Sprecher die Zahlen verlas, zappelte Oma Lisa auf dem Küchenstuhl herum. „Ho ich se och richtich verstonden? Ho ich se och richtich!“ Dann öffnete Oma Lisa bedächtig ihr abgegriffenes Bügelportemonnaie und entfaltete mit leicht zittrigen Händen ihren aktuellen Lottoschein.

„Ne, so en Unglick!“, jammerte sie „Eenen doneben“ oder „Jo, jo“, jauchzte sie, fand sie einen Treffer, den sie mit einem fetten Bleistiftkreis dick umkringelte. Sie freute sich strahlend, erzielte sie einen Dreier oder verkündete tagelang mit abgesenkter Stimme flüsternd verschwörerisch jedem der es hören wollte oder nicht: „I hob‘ vier Richtige letzten Somstog gehobt.“ Doch meist legte sie den aktuellen Schein ruhig auf den Tisch, strich dessen Knickfalten glatt, stand kopfschüttelnd auf und holte eine ihrer Keksdosen vom Küchenschrank.

Alte abgegriffene Blechdosen von Bahlsen. Riesengroß, wie mir, dem Enkel, schien. Eher „Kekstonnen“ – vollgefüllt mit Lottoscheinen. Ein Schein für jede Woche. Immer andere Zahlen. Außer der 7, dem Geburtsdatum ihres Enkels. Die 7 war fester Bestandteil in jedem ihrer Tipps.

Ja, und dann kontrollierte Oma Lisa all diese knittrigen Lottoscheine. Verglich die aktuellen Zahlen mit ihren vergangenen, erfolglosen Tipps. Woche für Woche – Sonntag für Sonntag. Und Oma Lisa litt. Jeder Dreier ein „Och Gott!“. Jeder Vierer „Och ne, hätt‘ ich diese Zohlen blos genummen.“

Als ich Kind war wünschte ich Oma Lisa oft, dass sie auf diesen alten wertlosen Scheinen mal einen Fünfer oder gar einen Sechser finden sollte. Ich mochte und mag Oma Lisa. Heute weiß ich, ihr Herz wäre gebrochen und ich bin froh, dass sie diese teuflischen Zahlen nie fand.