Oma Lisa: Erinnerungen an eine Automatenspielerin

Warnhinweis: Dieser Beitrag kann auf empfindliche Personen belastend wirken!

Weitere Hinweise über diese Reihe finden Sie in unserem Blogbeitrag Vorwort Spielerreportagen.

Oma Lisa war die erste Automatenspielerin, die ich kennen lernte. Auf ihren schier endlosen gutnachbarlichen Besorgungsgängen zwischen Bäckerei, Fruchtbörse, Lottoannahmestelle und Rudarts Getränkeladen lag als fester Anlaufpunkt die Bahnhofsgaststätte.

Dortmund – Lütgendortmund hatte bis tief in die 70ziger Jahre noch einen richtigen Bahnhof.
Gemauert aus rotem Backstein. Mit Bahnbeamten hinter Schaltern mit gelblichen Zellophan-
Sprechfenster, die Fahrkarten auf dicken bräunlichen Karton stanzten. Und mit einer
lebendigen Bahnhofsgaststätte. Rentner im Dauerfrühschoppen. Arbeiter im fleckigen
Blaumann vor dem Tagesgericht auf Porzellan. Reisende, die den Zug verpasst hatten, weil
das Pils noch klassische sieben Minuten gezapft wurde. Eine dralle dunkelhaarige Kellnerin
mit Dauerwelle und weißem Schürzchen für die vier Tische. Die Tische aus gutem, warmem,
lebendigem Holz.

Und natürlich Oma Lisa, die nu moh dos Netz abstelln´ wollte, den artigen Enkel und Neuigkeiten von der Station, so nannte Oma Lisa die Steinhammer Straße, herumreichte und…, so ganz nebenbei, kramte sie in ihrem abgegriffenen Bügelportemonnaie nach Groschen. „Och, da hoh ich jo noch eenen“, sagte sie wie zufällig überrascht regelmäßig. Der Groschen verschwand im Automatenschlitz. Zahlen und Rittergesichter tanzten und wurden zu bunten Kreisen. Die linke Scheibe stoppte, dann die rechte, letztlich die mittlere. „So een Glik“, strahlte Oma Lisa, wenn vier oder sechs Groschen hart aus dem Apparat klapperten. „Och, noch eenen“, stieß Oma Lisa wie wegwerfend hervor, unterstrich ihre Worte mit einer raschen, abgehackten Handbewegung, an deren Ende der Groschen wieder im Gerät verschwand. „Drik du moh, hast sicha een glikliches Händchen“, – und artig drückte ich auf eine rot aufleuchtende Taste. Die Scheibe stoppte. Das Spiel war aus. Der Groschen verloren. „Och ne, pfui Deibel“, schimpfte Oma Lisa, kramte hektisch noch mal in ihrem Bügelportemonnaie. Sie legte das Geldstück in ihre hohle Hand und spuckte dreimal drauf. Natürlich spuckte sie nicht richtig! Ihre Lippen formten nur ein pfff, pfff, pfff und wieder verschwand der Groschen im Spielgerät.

Diese Erinnerungen an Oma Lisa und ihre Automatenspiele sind ein lebendiges Bild einer vergangenen Zeit, in der solche Momente des Alltags oft unbemerkt blieben, aber dennoch das Leben prägten.

„Nu is oba gnug“, ärgerte sie sich nach diesem weiteren verlorenen Groschen. Mit roten Flecken auf den Wangen steckte sie ihr Portemonnaie in den braunen Mantel mit dunklem Kunstpelzkragen, griff entschlossen mit der Linken das Einkaufsnetz, mit der Rechten meine Hand. Härter als üblich, so als wolle sie sich irgendwo festhalten. „Dos du mir dem Opa nischt sogst“, beschwor sie mich vor der Bahnhofsgaststätte, ihren Mund verschwörerisch zu meinem Ohr geneigt. „Dos du mir nur nischt dem Opa sogst.“

Hatte Oma Lisa allerdings gewonnen, erhielt ich den Gewinn. Die sieben oder acht Groschen. Ich kaufte mir ein Tarzan-Heft, fühlte mich reich und glücklich und sie erzählte mir, dass sie in der letzten Woche eh schonviiil Glik´ gehabt hätte. Vom 50zig Pfennigstück, dass sie vor
der Bockhalle´ fand. Bestimmt voneenem Besuufnen´. Und den gefundenen Rabattmarken,
zweemol´ vor Rudarts Getränkeladen. Einmal musste sie sogar drauftreten, weil Frau Springer aus dem zweiten Stock gerade um die Ecke bog. „Jo, i hob in meenem Leben schon viiil Glik gehobt.“

Verlor Oma Lisa, beteuerte sie mir, sie habeoch schon son Gefiiil gehobt´, aber ansonsten
habe sie in der letzten Woche `viiil Glik gehobt´ und die Erzählungen über gefundene
Groschen und Rabattmarken begannen.

Die Bahnhofsgaststätte schloss 1973. Ein Jahr später wurde eine dicke Pressspanplatte vor
die Scheibe des Fahrkartenschalters eingepasst und ein Automat an die weißgekachelten
Wände der Bahnhofshalle geschraubt.

Es blieben die beiden Bahnsteige. Kalt, zugig, mit einem Selbstentwerter, der automatisch
einen Stempel auf die Fahrkarten aus etwas dickeren Papier drückt.

Das Gebäude wurde 1976 niedergerissen und verschwand spurlos. Auch Oma Lisa starb in
diesem Jahr und später schien mir, die Groschengeräte mit ihr.

Als ich zu spielen begann, kostete das Spiel bereits 40 Pfennig.